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Interview mit Prof. Dr. Tom Brown

Wie lässt sich die Integration Erneuerbarer ins Energiesystem abbilden?

Die Antwort lautet: Mithilfe komplexer Modellierungssysteme.

Tom Brown ist führender Experte in der Entwicklung von Energiesystemmodellen an der TU Berlin. Unter seiner Leitung entstand unter anderem das Open-Source Modell Python for Power System Analysis (PyPSA), das im Rahmen von zusammEn2040 für Österreich weiterentwickelt wurde. Das Projektteam der APG traf sich mit Brown, um über die Chancen und Herausforderungen moderner Modellierungssysteme sowie deren Einsatz in der Praxis zu sprechen.

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Interview

APG: Grüß Gott Herr Brown! Danke, dass Sie sich für uns Zeit nehmen. Wir würden gerne mit einer allgemeinen Frage starten: Was ist Ihre Motivation, sich mit dem Thema Energiesystemmodellierung zu beschäftigen?

Brown: Das Energiesystem muss und wird einen zentralen Beitrag zum Gelingen der Energiewende leisten. Mit den Erneuerbaren haben wir die Möglichkeit, das Energiesystem umzubauen. Allerdings bedeutet die Volatilität von Stromerzeugung aus PV und Wind große Veränderungen. Um zu planen, wie die Erneuerbaren ins System integriert werden können, benötigen wir die richtigen Tools, um die neuen Zusammenhänge auch abbilden zu können.

APG: Mit „abbilden“ meinen Sie: wir müssen diese neuen Zusammenhänge simulieren können?

Brown: Ja! Wichtig dabei ist, dass die Planung der Zukunft immer mit großen Unsicherheiten behaftet ist. Zentral ist also, dass die Modelle flexibel genug sind, diese Unsicherheiten abbilden zu können. Man muss untersuchen können, was passiert, wenn z.B. weniger Windenergie ausgebaut wird als ursprünglich gedacht. Das ist auch eine der Schwierigkeiten – gesamtheitliche Modellierungssysteme werden schnell unglaublich komplex!

APG: In zusammEn2040 kommt ein Energiesystemmodell zum Einsatz, das als Grundlage das von Ihnen entwickelte PyPSA verwendet. Was zeichnet PyPSA Ihrer Meinung nach aus im Vergleich zu anderen Energiesystemmodellen?

Brown: Als wir vor acht Jahren begonnen haben, PyPSA zu entwickeln, waren die Voraussetzungen noch ganz andere. Erstens gab es viele unterschiedliche Modelle, die sich jedoch nur mit einzelnen Ausschnitten des Energiesystems beschäftigten beziehungsweise die vor allem für den Einsatz konventioneller Kraftwerke entwickelt wurden. Mit dem Ausbau der Erneuerbaren ändern sich jedoch die Voraussetzungen: Es gibt eine neue geografische und räumliche Verteilung der Erzeugung. Was PyPSA auszeichnet, ist genau die hohe geografische und zeitliche Auflösung sowie die Möglichkeit der Sektorenkopplung zwischen Wärme, Verkehr und Industrie. Diese Verknüpfungen der Sektoren sind gut im Modell abbildbar, ohne Schnittstellen zu anderen Modellen bauen zu müssen. Ein zweites Alleinstellungsmerkmal war, dass wir von Beginn an mit einem Open-Source-Ansatz gearbeitet haben. Dieser Ansatz hat sich in der Zwischenzeit aber zum Glück immer mehr durchgesetzt.

APG: Sie haben jetzt das Thema Open Source erwähnt. Wieso ist Transparenz in der Diskussion um die Zukunft der Energiewende so wichtig?

Brown: Als Modellierer hat man einen großen Spielraum. Wenn die getroffenen Annahmen offengelegt werden, wird der Dialog ein völlig anderer. Wir wissen aus vielen Diskussionen in der Vergangenheit: Wenn kein transparenter Ansatz verfolgt wird, fällt auch die Entscheidungsfindung schwer, da unterschiedliche Modellansätze unterschiedliche Methoden und Ziele haben, was sogar zu widersprüchlichen Ergebnissen führen kann. Diese Methoden und Ziele offenzulegen hilft, um später Entscheidungen besser nachvollziehbar zu machen.

Gesamtheitliche Modellierungssysteme werden schnell unglaublich komplex!

Prof. Dr. Tom Brown Führender Experte in der Entwicklung von Energiesystemmodellen an der TU Berlin

APG: Was sind die größten Herausforderungen bei der Energiesystemmodellierung?

Brown: Ganz klar drei Themen. Zum einen ist da die Datenqualität. Wie viele Wärmepumpen wird es geben, wo werden Erneuerbare zugebaut, welche Wirkungsgrade gibt es in der Zukunft, was passiert in der Industrie? Es gibt hunderte Fragen, aber oft nur annähernde Antworten. Gleichzeitig gab es hier in den letzten drei bis vier Jahren eine wahnsinnige Entwicklung. Die Datenqualität hat sich deutlich verbessert. Manche Daten sind überhaupt erst jetzt verfügbar. Eine der großen Herausforderungen ist es, diese Daten Schritt für Schritt in die Modelle einzubauen.

Zum zweiten ist da die Rechenbarkeit. Die Modelle, die wir verwenden, sind unglaublich komplex. Berechnungen können schon mal mehrere Wochen dauern. Das macht zum Beispiel die Arbeit schwieriger, denn Anpassungen können nicht „einfach so“ getestet werden.

Drittens gibt es die Frage der Kommunikation. Bei der Fülle an Ergebnissen ist es wichtig, die relevanten Botschaften herauszufiltern und die Menschen nicht zu überfordern, aber die Situation gleichzeitig wahrheitsgetreu darzustellen.

APG: Das Thema der Kommunikation ist wohl in vielerlei Hinsicht entscheidend. Was war Ihre Erfahrung im Umgang mit der Kommunikation Ihrer Ergebnisse? Können Sie zum Beispiel Wirkungspfade Ihrer Arbeit aufzeigen?

Brown: In der Regel sind Auswirkungen auf politischer Ebene oft indirekt. Dann informiert die Forschung beispielsweise die Netzbetreiber oder andere Institutionen und dadurch indirekt die Politik. Aber es gibt auch Beispiele, wo PyPSA von Entscheidungsträger:innen direkt verwendet wurde: Zum Beispiel hat die Bürgerplattform von Donald Tusk, die 2023 die Wahlen in Polen gewonnen hat, Modellierungsergebnisse des Think-Tanks Instrat für ihre Energiepolitik verwendet. Ähnliches geschieht im Vereinigten Königreich, wo die Labour Party auf die Modellierung des Think-Tanks Ember zurückgreift.  Als Forscher ist es natürlich spannend zu beobachten, wo die Modelle zum Einsatz kommen – und welche Ergebnisse sich gewinnen lassen.

Wenn man die neuen Flexibilitäten schlau ausnutzt, können massiv Kosten gespart werden.

Prof. Dr. Tom Brown

APG: Sie sprachen schon von den Ergebnissen: Wo sehen Sie aus inhaltlicher Sicht die wichtigsten Ergebnisse oder Erkenntnisse aus der Energiesystemmodellierung?

Brown: Eine der wichtigsten Erkenntnisse für mich ist sicher: Wenn man die neuen Flexibilitäten schlau ausnutzt, können massiv Kosten gespart werden. Es ist wesentlich sinnvoller, Überschüsse bei der Produktion mit Erneuerbaren für die Elektrolyse zu verwenden, anstatt sie komplett abregeln zu müssen. Und bei der berüchtigten „kalten Dunkelflaute“ (gleichzeitig hoher Stromverbrauch bei niedriger Produktion von Wind- und Sonnenstrom, typischerweise an aufeinanderfolgenden kalten, bewölkten, aber windlosen Wintertagen, Anm.) braucht es genügend Speicher, um die Versorgung sicherstellen zu können.

APG: Als Netzbetreiber können wir hier auch unsere Perspektive ergänzen: Trotz des massiven Netzausbaus, der für die Integration der volatilen Erzeugung und aufgrund der Elektrifizierung nötig ist, braucht es in Zukunft neue Flexibilitäten, die auch systemdienlich eingesetzt werden können.

Brown: Genau. Insgesamt geht es um die Frage, dass das Gesamtsystem effizient geplant wird.

APG: Modelle stehen ja oft auch in der Kritik. Was kann ein Modell-basierter Ansatz leisten beziehungsweise wo sehen Sie vielleicht auch die Grenzen?

Brown: In der Energiewende gibt es viele heikle Themen, die schnell weite Kreise ziehen. Aus der Perspektive der ökonomischen Optimierung ist der Lösungsraum der Modelle sehr groß und lässt einen Spielraum für Entscheidungsträger:innen offen. Hier geht es schnell um geopolitische oder wirtschaftspolitische Fragestellungen: Wie schaffen wir die Dekarbonisierung der Industrie? In welchem Ausmaß wollen wir von Importen außerhalb von Europa abhängig sein? Diese Fragestellungen kann man aus Modellierungsperspektive natürlich nicht beantworten. Aber man kann die Entscheidungsfindung mit den Analysen unterstützen.

APG: Ein häufiger Kritikpunkt an Modellen ist auch, dass sie die Wirklichkeit nur unzureichend abbilden. Wie schlägt man in der Verwertung der Ergebnisse die Brücke zwischen Modell und Realität?

Brown: Einerseits durch Validierung, dort wo es möglich ist. Die Ergebnisse für Stichjahre werden geprüft und mit der Wirklichkeit verglichen. Wir haben schon den Anspruch, die Realität annäherungsweise abzubilden. Andererseits gibt es viele Unsicherheiten. Daher sind bei der Interpretation von Modellergebnissen oft qualitative Aussagen belastbarer als etwa eine exakte Berechnung der Kosten oder der benötigten Energieträgermengen. Ein Beispiel habe ich schon erwähnt: Flexibilitäten und Speicher werden essenziell sein. Modelle wie PyPSA können gut darstellen, wie sich ein Energiesystem als Gesamtes verhält. Um konkrete Infrastrukturprojekte abzuleiten, gibt es jedoch andere Prozesse, zum Beispiel den Netzentwicklungsplan der APG oder anderer Übertragungsnetzbetreiber in Europa.

APG: Was sind die großen Zukunftsthemen in Ihrer Forschung mit Energiesystemmodellierung?

Brown: Ein Hauptthema wird sicherlich sein, Resilienzen aufzubauen. Können und wollen wir bei synthetischen Gasen ähnliche Abhängigkeiten von außereuropäischen Produzenten wie bei Erdgas akzeptieren? Gleichzeitig gibt es andere Aspekte, besonders, wenn unser System zum größten Teil auf Erneuerbaren basiert. Wie gehen wir mit den Folgen des Klimawandels um – auch aus Perspektive der Versorgungssicherheit? Wie mit Naturkatastrophen oder Ereignissen wie Dunkelflauten? Solche Fragen müssen wir beantworten und dabei kann Energiesystemmodellierung eine wichtige Rolle spielen.

APG: Vielen Dank für das Gespräch!

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